Post für Sie

Ihr Lieben alle!

Seit einigen Jahren schwirrt vermehrt der Begriff „Partizipation“ durch pädagogische Konzepte und in jüngerer Vergangenheit gesellt sich ein zweiter gehäuft hinzu: „Kinder-Rechte“.
Beides sind für mich Ansprüche im Umgang mit Kindern und Jugendlichen, die ich nur befürworten kann. Heranwachsende sollen partizipieren (= teilhaben) an allen für sie altersgemäß wichtigen Lebensbereichen und ebenso ist sicherzustellen, dass ihre Rechte umgesetzt werden.

Image

Beim genaueren Lesen, was da über Partizipation und ihre Anwendung veröffentlicht wird oder wie Kinder-Rechte praktiziert werden, bekomme ich allerdings vielfach das kalte Grausen! Ich erlebe, wie Kinder zu allem und jedem befragt werden, damit aber die Gestaltung von Lebenssituationen überantwortet bekommen, die sie noch gar nicht einschätzen können. Das Erfolgs-Geheimnis der Teilhabe ist aber keinesfalls eine Übertragung von Entscheidungen an Kinder, sondern vielmehr die Offenheit von Erwachsenen für ein Kind, das mitmachen will.

Wenn ein Kind seine Beschäftigung unterbricht und beispielsweise fragt: „Darf ich auch Karotten schneiden?“ dann wäre es gut, wenn das dem Kind in sieben oder acht von zehn Situationen gewährt würde. Zwei- oder dreimal darf es auch erleben, dass für seine aktive Teilhabe kein Raum ist und es selbst einen Plan B entwickeln muss, wie es jetzt schön weiter gehen kann. Gegebenenfalls auch, indem es für eine Weile das Ventil des Jammerns und Traurig-Seins braucht, weil ein Mitmachen nicht möglich war.
Gelingende Teilhabe geht vom Kind aus und braucht die Vorlage eines Erwachsenen, der etwas tut und sein Leben lebt – möglichst nach eigenen Überzeugungen! Wenn ein Kind sich aus seiner Beschäftigung löst, ist das meist ein Ergebnis von Offenheit, Interesse und Reife. Daraus lernt es ungleich viel mehr, als wenn der Erwachsene in die kindliche Gedanken-, Gefühls- und Beschäftigungswelt mit der Frage grätscht: „Willst Du vielleicht mit mir Karotten schneiden?“.

Ähnlich wie durch die verdrehte Deutung von Teilhabe, werden Kinder mit Hinweisen auf ihre Rechte überfordert und verwirrt. Naturgemäß vertrauen sie ihren Eltern, Großeltern oder Pädagogen und haben nicht den Gedanken, dass sie jemand um ihr Recht bringen will. (Das sind erwachsene Befürchtungen, die wir eventuell auf unsere Kinder übertragen.) Und es sind die Taten von Erwachsenen, die Kinder-Rechte missachten. Also müssen nicht Kinder auf ihre Rechte hingewiesen werden, sondern wir Erwachsene müssen für die Einhaltung der Kinder-Rechte sorgen!

Kinder – das beobachte ich leider viel zu oft – werden häufig behandelt wie kleine Erwachsene. Es werden Entscheidungen und Verhaltensweisen von ihnen gefordert, die sie entwicklungsgemäß gar nicht bringen können, weil weder ihre Reflexionsfähigkeit noch ihr zeitlicher, räumlicher und logischer Weitblick dafür ausreichend entwickelt sind. Auch nicht mit ausführlichsten und wiederholten Erklärungen!
Wir Erwachsene müssen uns in die Pflicht nehmen und die Verantwortung für das gesunde Heranwachsen von Kindern tragen. Dazu gehört, dass wir Kinder an unserem Leben Teil haben lassen und sie schützen – auch vor Überforderung! Das wollte ich unbedingt einmal klarstellen.

Wer nicht persönlich betroffen ist von diesen Gedanken, weil es im Alltäglichen wenig Umgang mit Kindern gibt, der könnte diese „Post für Sie“ an Eltern, Großeltern, Pädagogen, Psychologen oder Interessierte weitergeben – um aller Kinder willen. Danke!

Es grüßt Sie und Euch herzlich
Elisabeth Johannsen

Hambach, im Februar 2023